Linearität, Open World & Freiheit
Eine Kolumne von Jörg Luibl, 23.01.2008

Die gerade Linie. Ein Weg führt zum Ziel. Es gibt nur eine Richtung. Man fährt in die Einbahnstraße. Man hat keine Möglichkeit, nach links oder rechts abzubiegen. Der Level wird zum Schlauch, man folgt einem Kanal. Videospiele haben eine lineare Tradition. Egal ob es von links nach rechts oder von unten nach oben scrollt, egal ob man wie in Super Mario hüpft, wie in R-Type ballert oder wie in Monkey Island rätselt.

Diese Wurzeln sind so stark, dass sie seit drei Jahrzehnten das Spieldesign prägen. Und man fühlt sich heute noch sehr wohl in diesem virtuellen Korsett. Es gibt unheimlich gute, lineare Unterhaltung - egal ob Black Mirror, God of War oder Resident Evil, egal ob Shadow of the Colossus oder The Darkness. Wie unterhaltsam der eine Weg zum Ziel sein kann, haben gerade erst Zack & Wiki oder Devil May Cry 4 gezeigt.

Die Linearität ist also per se nichts Schlechtes. Wie sollte sie auch, wenn sie zwei ältere, kulturell erfolgreichere Unterhaltungsmedien kennzeichnet: Film und Theater zeigen eine strenge Abfolge von Szenen bis zum Abspann. Bücher fangen bei Seite 1 an, danach blättert man in mathematischer Reihenfolge bis zur letzten Seite. Beide bieten dem Zuschauer bzw. Leser nur ein Ende - auch Literatur und Kino sind auf den ersten Blick nichts anderes als lineare Einbahnstraßen. Und damit sind sie verdammt erfolgreich.

Was soll also der Kritikpunkt "zu linear" in der Spielewelt? Auf was bezieht er sich? Man stolpert oft in Tests darüber, wir schreiben oft in Tests darüber. Vielleicht sollte man besser fragen: Woher kommt überhaupt der Wunsch, etwas "Nicht-Lineares" zu erleben? Und warum wird dem Medium Spiel scheinbar zugetraut, hier mehr zu leisten? Ganz einfach: Weil es theoretisch als einziges Medium die zauberhafte Illusion der Freiheit erschaffen kann!

Mein erstes nicht-lineares Erlebnis hieß Pac-Man. Und es fasziniert mich deshalb bis heute, weil ich bestimmen kann, wo es langgeht, weil ich mein Schicksal selbst in die Hand nehmen und nicht nur den Weg meiner Wahl einschlagen, sondern auch den Spieß umdrehen kann - vom Gejagten zum Jäger. Pac-Man hat keinen Ausgang, kein sichtbares Levelende, sondern einen freien Raum, in dem ich mich viel freier entfalten kann als in so manchem Action-Rollenspiel der Neuzeit. Probleme kommen aus allen Richtungen, Lösungen finde ich in allen Richtungen.

Diese Faszination offener Spielwelten hat also auch gute alte 2D-Tradition und ist kein spätes Baby der dritten Dimension - Zelda war schon auf dem SNES herrlich offen, es hat das Jagen und Sammeln in Echtzeit angeboten. Heute ist "Open World" nur ein scheinbar neues Gütesiegel für Spiele wie Oblivion, GTA, Crackdown und letztlich auch für viele Online-Rollenspiele. Selbst ein Sportspiel wie skate oder ein Rennspiel wie Burnout Paradise trägt es.

Aber was für Welten werden heutzutage konstruiert? Sind wir da weiter als mit Pac-Man oder dem frühen Zelda? Und kann das theoretisch ach so freie Medium Spiel mit den streng linearen Brüdern aus Literatur und Film mithalten? Nein. Noch nicht. Bisher beschränkt sich der Freiheitsbegriff auf die Erkundung oder Zerstörung - das kann alles Spaß machen, das macht es aber auf nahezu identische Art und Weise seit zwanzig Jahren. Wo bleibt die Entwicklung?

Auf der erzählerischen Ebene öffnet die Kulturkonkurrenz in Büchern und auf der Bühne noch viel öfter Türen zu offenen Fantasien, faszinierenden Utopien oder alternativen Wirklichkeiten, gegen die die meisten Spiele noch wie stupide Arrestzellen wirken, in der mir Freiheit nur vorgegaukelt wird. Das Phänomen des Abtauchens, der so genannten Immersion, gelingt einer geschickten Ansammlung von Buchstaben noch viel häufiger als einer hoch entwickelten Ansammlung von Polygonen.

Die Frage der Linearität ist bei der Beurteilung von Spielen meist auf drei Ebenen reduziert - mit aufsteigender Wichtigkeit: Leveldesign, Problemlösung und Handlung. Pac-Man und GTA bieten Offenheit auf der untersten der möglichen, aber eben deutlich sichtbaren Stufe: dem Leveldesign; man kann sich in einer Welt frei bewegen. Thief, Splinter Cell, Crysis und BioShock bieten zudem Offenheit auf der mittleren, der aktiven Stufe: der Problemlösung; man kann also frei wählen, wie man ein Rätsel knackt oder einen Feind beseitigt.

Interessanter wird die Frage auf der bisher selten erreichten dritten Stufe: der Handlung. Denn darunter verstehe ich die spielerische Aktion mit erzählerischer Konsequenz, die bisher oft nichts anderes als eine Problemlösung mit zwei Möglichkeiten ist. Fable, Black & White, Deus Ex, Mass Effect und Fahrenheit bieten lobenswerte Ansätze, wenn man zwischen guter oder böser Moral entscheiden und die Auswirkungen in der Spielwelt erleben kann. Und diese kleinen Schritte sind wichtig, denn genau hier befindet sich das junge Medium noch in der kulturellen Steinzeit.

Nur wer so frei ist, dass er immer auch hätte anders agieren können, macht sich Gedanken über eine virtuelle Welt. Es gibt immer Ausnahmen, aber nur wenn es theoretisch Konsequenzen gibt, kann eine dramatische Situation entstehen. Nicht ohne Grund hat Hideo Kojima auch das inflationär diskutierte Thema Gewalt kürzlich als unbeackerten Spielboden beschrieben - da ist ja auch seit Doom fast nichts passiert, was Spieler zum Nachdenken animiert.

Bisher steckt noch viel zu viel plumpe Realität im offenen Spiel, als dass man groß über seine Erfahrungen sprechen oder gar staunen könnte: Virtuelle Müllkippen à la Second Life oder Leveltretmühlen für Questkamele à la World of WarCraft prägen die breite Masse. Es wird noch zu viel Alltag abgebildet, wiederholt und wiedergekäut. Es wird unterm Strich mehr virtuell exhibitioniert und dekonstruiert als kreiert. Das kann zum Zeittotschlagen und für das Zwischendurchzocken immer noch eine heilende Medizin sein. Das Spiel befindet sich als Schöpfer von Illusionen, als kreatives Medium aber noch in Kinderschuhen.

Warum lechzen also viele Spieler nach offenen Welten? Warum wünschen wir uns als Tester auch Fortschritte in den kleinen Bereichen des Leveldesigns oder der Problemlösung? Weil das erste Mosaiksteine auf dem Weg zu mehr Freiheit sein können. Weil hier noch so viele Potenziale schlummern! Weil das Spiel theoretisch das einzige Medium ist, das freie Gestaltungsräume bieten kann. Nur in ihm können Visionen von Freiheit, egal ob Apokalypse oder Zeitreise, ob Fantasy oder Science-Fiction, ob Utopie oder Dystopie, verwirklicht werden - das ist die große kulturelle Herausforderung für das Spieldesign der Zukunft.


Jörg Luibl
Chefredakteur