Das kultische Vorspiel
Eine Kolumne von Jörg Luibl, 04.04.2008

Es gibt Spiele, die kann man in der überfüllten S-Bahn, in der Lärmhölle eines gut besuchten Kindergeburtstags oder zusammen mit drei bis zehn grölenden Kumpels im Partykeller zocken. Da geht es dann ohne langes Vorspiel direkt zur Sache: Mund auf, Bier rein, Feuer frei in ludologischer Völlerei. Und dabei ist es egal, wie es um einen herum aussieht - man kann sie auch zwischen fleckigen Pizzakartons, graugrünen Altsocken und gefährlich schiefen Geschirrbergen genießen.

Aber es gibt Spiele, für die braucht man nicht nur die selige Ruhe des Alleinseins, sondern ganz spezielle Vorbereitungen. Mit diesen seltenen Spielen, die man von ganzem Herzen verehrt, zieht man sich am liebsten zurück, um beim Erstkontakt eine besonders intime Verbindung aufzubauen. Das Wohnzimmer wird dann zum Tempel, die Couch wird zum Altar.

Man räumt sogar in seiner chaotischen Zockerhöhle auf, man saugt den seltsam belegten Teppich in stoischer Gründlichkeit, man ordnet all die wilden Kabelschlangen und wischt den Bildschirm mehrmals mit Feuchttüchern, die die Stiftung Warentest für sehr gut befunden hat. Schließlich ist diese heilig flimmernde Mattscheibe nicht weniger als das Tor in die andere Welt, wo abstrakte Wesen und überirdische Erfahrungen warten.

Es muss sich allerdings um die Ankunft einer ganz besonderen Ikone handeln, wenn man sich dermaßen beschwingt dem kategorisch verdrängten Putzfimmel hingibt - kein Mittelklasseshooter, kein Ottonormalrollenspiel, kein Spieldesignramsch. Nein, diese religiöse Huldigung gönnt man nur diesem einen Highlight, diesem ganz speziellen und über Monate herbeigesehnten Traumspiel, das vielleicht in zahlreichen Pressepredigten gepriesen wurde: Grand Theft Auto IV? Metal Gear Solid 4? Resident Evil 5? Need for Speed 6?

Jeder huldigt seinen Göttern. Und wenn die in vollem Glanz erscheinen sollen, muss einfach alles stimmen: Zeit, Ort, Rituale. Also plant man die Ankunft frühzeitig, also opfert man ein paar Euros für die Kinokarte der Geschwister, also nimmt man sich frei oder geht mit einem Arztbesuch gleich für drei Wochen auf Nummer sicher. Auch Spieler sind Pilger, die manchmal einen steinigen Weg vor sich haben. Außerdem futtert man drei Tage vorher keine Chips, macht vier Liegestütze am Stück, entsagt dem Alkohol aus der Dose und reserviert sich eine ganz besondere Flasche Rotwein.

Wichtiger als die Ruhe und das Fasten ist jedoch das perfekte Ambiente: Den Krümel da hinten noch wegsaugen? Die Couch vielleicht noch einen Zentimeter zurück? Die bollernde Heizung runterschalten? Das Bild der Schwiegereltern umdrehen? Man weiß ja nie, welche störenden Energien wo lauern. Man betreibt Feng Shui für Gamer und bemerkt es kaum, denn es existiert nur noch die magische Vorfreude auf dieses eine Spiel. Deshalb schwebt die ganze Zeit über dieses seltsam selige Grinsen im Gesicht, noch bevor der Startbildschirm überhaupt zum Leben erwacht. Wie sieht man wohl erst in Level 6 aus? Egal, Spiegel werden sicherheitshalber auch von der Wand genommen.

Ein paar wichtige Kleinigkeiten fehlen noch, denn selbst in Zeiten der Glaubenstoleranz beharrt der Zocker auf Kultexklusivität - oder anders gesagt: Türklingel abschalten, Telefonkabel rausziehen, Handy stumm stellen. Und wenn alles passt, wenn wirklich alles sitzt, dann kommt endlich der finale Akt: Vorhänge zu, Licht aus, Konsole an! Dieses Trio versetzt mich endgültig in Trance.

Begleitet von warmen Lüfterwinden sinke ich in die Couch. Ich umfasse das Gamepad so vorsichtig, als wäre es aus Glas und lege das Spiel ein. Dann wandert dieses magische Kribbeln langsam den Nacken hinauf und mein Blick wird so schmal justiert, dass mich selbst Diego nicht mehr tunneln könnte.

Es ist zunächst ganz still. Erst wenn das Intro endlich läuft, ist es ein sanfter Seufzer der Zufriedenheit, der den leicht geöffneten Lippen entfleucht. In diesem einen Moment wird der heilige Höhepunkt erreicht. Und egal, was die Welt da draußen von den kommenden Stunden halten mag: Dieses Vorspiel bleibt mein Kult, mein Ritual, meine Besessenheit…


Jörg Luibl
Chefredakteur