Silent Hill 2 - die Kunst der Angst
Eine Kolumne von Jörg Luibl, 12.12.2001

Es ist still -- totenstill. Langsam schleiche ich durch die düsteren Korridore eines Irrenhauses. Die verrotteten Wände erzählen eine wahnsinnige Geschichte aus Blut, Schweiß und Erbrochenem. Dann ist das Rauschen wieder da. Und diese verdammte Panik-Melodie, die meine Nackenhaare strammstehen lässt. Irgendetwas schlurft im Dunkel des Ganges, stöhnt gequält und kommt immer näher...

Wieso spiele ich eigentlich ein Spiel, das nur ein psychiatrisch geschulter Hausarzt verschreiben dürfte? Und wieso empfinde ich das Ganze auch noch als dramaturgisches Kunstwerk par excellence?

Gegenfrage: Warum lesen so viele Leute Stephen King? Weil er als Meister des subtilen Horrors genau die Stilmittel einsetzt, die auch die Videospiele um Silent Hill zu einer herrlich grauenvollen Erfahrung machen. Konami katapultiert mich nämlich nicht einfach in eine optische Albtraumwelt voller Gewalt und Exzesse. Sicher: Auch grafisch gibt`s einen herrlichen Ekelbissen - wenn man gerade denkt, dass es nicht mehr dreckiger und abstoßender geht, präsentiert Euch Silent Hill 2 wieder eine innovative Nuance von versifft.

Aber erst der gekonnte Einsatz von Schatten, Geräuschen und Symbolen macht den Titel zu einem psychologischen Meisterwerk, das mit Urängsten spielt: Tod, Hilflosigkeit, Enttäuschung und seelische Abgründe warten auf Spieler mit leicht masochistischer Spielspaßauslegung. Denn vom klassischen „Spielspaß“ kann man bei Silent Hill 2 eigentlich gar nicht mehr reden. So mancher Spieler wird den Gang zur Konsole vielleicht als ebenso bittersüße Quälerei empfinden wie die Lektüre der besten Poe-, Barker- oder King-Bücher. Andere werden nach einigen Stunden vielleicht bemerken, dass sie sich dauerhafte psychologische Narben zufügen und die nächsten Nächte schreiend aufwachen.

Der Seiltanz zwischen Lese- bzw. Spielspaß und Angst lässt sich nur von Meisterhand bewältigen. Silent Hill ist durch eine Fülle an Stilmitteln und Motiven gekennzeichnet, die auch in der Literatur- und Filmgeschichte auftauchen. Damit hat Konami unser Hobby -eigentlich schon seit Silent Hill 1- nicht nur in die große Tradition der Erzählkunst eingereiht, sondern eine neue und unmittelbare Form des Nervenkitzels kreiert, die nur das Videospiel präsentieren kann: ein interaktiver Horror-Trip, ein Tanz mit der Angst!

Bleibt die Frage, wann der erste Studiengang „Video- und Computerspielwissenschaft“ an Universitäten Premiere feiert. Vielleicht wird Silent Hill ja im Rückblick einen ähnlichen Kult-Status besitzen wie Bram Stokers "Dracula" oder Stephen Kings "Es"?

Jörg Luibl
4P|Textchef