Männerstolz & Biomonster
Eine Kolumne von Jörg Luibl, 12.12.2003

Seit gestern weiß ich: Beim Urknall blieb etwas verdammt Wichtiges auf der Strecke. Etwas, das natürlich weder bei Atheisten noch in irgendeiner Schöpfungsgeschichte eine Rolle spielt: die humane Spielbalance! Es gibt kein Gen, keinen Gott, keinen mythologischen Namen dafür. Ihr fragt noch wofür? Für seltsame Pro-Gamer-Menschen - nein: Monstren!-, die in Online-Duellen 88 mal in Folge gewinnen. Egal welches Genre: Sie kommen 40 Sekunden früher als du ins Ziel, gewinnen alle Sätze zu null und schießen dir die Bude ein – vom Kopf ganz zu schweigen.

Es gibt da draußen zockende Biomonster, die es einfach nicht geben dürfte. Sie ticken genetisch ganz anders als der Freund von nebenan, den man zum kleinen Spielchen einlädt. Oder die Kumpels, mit denen man eine nette LAN-Party feiert. Der Spaß weicht einer rücksichtslosen Zerstörung, die tiefe Spuren in der Gamer-Seele hinterlässt. Gerade jetzt, im nasskalten Winter.

Und deshalb werde ich ab sofort die KI in den Himmel loben! Alles, was mir da draußen plattformübergreifend in Action- und Sportspielen an programmierter Intelligenz begegnet ist psychologisch wichtig! Ich werde nie wieder mit abgegriffenen Worthülsen wie „keine Intelligenz“ spötteln, nie wieder in Tests die böse Umwandlung in „KD = künstliche Dummheit“ fordern.

Wieso diese pathetischen Schwüre? Wir sind ja unter uns, da kann ich ganz frei plaudern: Gestern Abend. Xbox Live. Eishockey. Ein Ranglisten-Spiel. Psychoterror vor der Glotze. Schon der Name meines Gegners hätte mich stutzig machen sollen: IsaCtanE666. Aber ich kicherte überheblich in mich rein: So viel Eis und Teufel? Der Witzbold kann was erleben! Und normalerweise begrüßt man sich kurz, aber hier: Stille. Nur ein leises Knistern schlich durch die Voice Communication…

Dann die Einstellungen: Der schweigsame Kauz hat doch tatsächlich alles auf „manuell“ gestellt, alle Automatismen abgeschaltet, wollte jeden verdammten Kleinkrams selbst erledigen – von der Goalie-Steuerung bis zum Reihenwechsel. Nicht zu fassen: Jetzt lässt er hier den Profi raushängen, habe ich mir gedacht. Und natürlich auch alles runtergefahren. Das Drama nahm seinen Lauf:

Spielstart, Bully, Tor. Nach fünf Sekunden lag ich 1:0 hinten. Okay, kann passieren, Glückstreffer. Und das 2:0 hat er wirklich gut rausgespielt, was ich in naivem Sportsgeist noch mit „Good goal“ quittierte. Und er? Keine Antwort. Am Ende des ersten Drittels stand`s dann 3:0, aber mein Ehrgeiz kämpfte noch mutig mit. Zweites Drittel, dasselbe Spiel: Alle Pässe kommen an, nur meine nicht. Die Pucks jagen aufs Tor, nur auf seines nicht. 4:0, 5:0, 6:0. Erst ein Torschuss? Das darf doch nicht wahr sein! Hey, ich hatte eine ausgeglichene Statistik, bin zwar kein Crack, aber so eine Blamage? Ich frage verzeifelt: „How long do you play this game?“ Wieder keine Antwort.

Im letzten Drittel ging es nur noch um die Ehre. Ich musste einen mickrigen Treffer landen! 7:0, 8:0. Das ist ja lächerlich! Verdammter Dreck - jetzt reicht`s:„WHO ARE YOUUU?“ brüllte ich ins Mikro. Als Antwort hämmerte er mir das 9:0 mit einem Schlagschuss in den rechten Winkel. Jetzt klingelten die letzten Alarmglocken und eine hysterische Stimme in mir wiederholte gnadenlos: „Zweistellig, zweistellig, zweistellig!“ Nein, das auf keinen Fall! Das letzte Fünkchen Ehrgeiz übernahm die Kontrolle über die verschwitzten Finger. Noch zwei Minuten Spielzeit. Ich hab ihn gecheckt, geblockt und mit aller Macht aus meiner Hälfte getrieben. Noch eine Minute.

Okay, man kann hoch verlieren, aber die 9 muss stehen! Die letzte Mauer vor der Zweistelligkeit! Dahinter wartet der tiefe Abgrund der Lächerlichkeit. Noch 30 Sekunden, noch 20 Sekunden, ich habe den Puck – hurra! Jetzt der Ehrentreffer: Ich passe auf die Seite, skate Richtung Goalie, will gerade zum Deke ansetzen und schie----- scheiße! Er hat mich abgefangen, der Konter rollt, noch drei Sekunden, noch zwei Sekunden, One-Timer, Tor, 10:0. Die Welt ist schlecht, und meine Couch schweißnass.

Versteht ihr mich jetzt? Nach so einem Desaster ist der gutmütig programmierte Gegner Ambrosia für die verwundete Gamerseele! Was soll der eitle Wettbewerbsgedanke? Einfach mal Fünfe gerade sein lassen, die Schwierigkeit auf „Leicht“ stellen und haushoch siegen! Man kann ja auch die Vorhänge zuziehen, die Lieben ins Kino schicken. Zeugen müssen ja auch nicht unbedingt dabei sein, wenn man andere Teams auf Rookie-Niveau zerpflückt.

Und wenn das Gewissen den maskulinen Stolz hinterhältig mit „Mann oder Memme“ reizt? Dann wird`s haarig, dann naht die Depression. Daher rate ich: Schaltet es einfach aus. Und immer wieder an die letzte Niederlage gegen so ein zockendes Biomonster denken! Wollt ihr das noch mal erleben? Nein? Na also! Dann gibt es auch bald wieder ganz easy Erfolgserlebnisse gegen die eigene Spezies: Mal wieder einen Videospiel-Noob wie den Nachbarn zu einer harmlosen Party Pro Evolution Soccer 3 einladen, und ihn richtig fertig machen. Die kleine Schwester beim ersten Schachspiel in drei Zügen matt setzen. Oder den fünfjährigen Sohn in Mario Kart abziehen. Mann, tut das gut…


Jörg Luibl
4P|Textchef

PS:

Heute Mittag habe ich mit meinem Bruder telefoniert. Er hat sich doch tatsächlich Xbox Live zugelegt. Außerdem hat er sich ein Eishockeyspiel gekauft. Er war zwar erst sauer, dass Mikro und Kopfhörer defekt waren, aber sein erstes Ranglistenspiel hat er trotzdem grandios gewonnen – gegen „einen Vollnoob, dem ich ein Ding nach dem anderen reingemacht hab." Ich zuckte zusammen, kalter Schweiß presste sich durch Poren. "Weißt du, wie hoch ich gewonnen habe?“ Da hab ich aufgelegt.