Vom Spiel zur Uni? Aber sicher!
Eine Kolumne von Jörg Luibl, 12.02.2004

Hertha BSC Berlin geht es ja schon richtig dreckig. So viel Potenzial, so viel Hoffnung auf internationalen Ruhm und jetzt ein verspottetes Kellerkind. Aber was soll die deutsche Jugend sagen? Einer nach dem anderen wird ihr eingeschenkt, Niederlage reiht sich an Niederlage: Amok in Erfurt, Abstieg mit Pisa, Küblböck im Dschungel und jetzt die Barbarei an Schulen. Das Schlagzeilen-Stakkato durchlöchert den Nachwuchs und hinterlässt den konsumgeilen Spaßkonsumenten – charakterlos, gewalttätig, dumm.

Hallo Kids, Teens, Heranwachsende, Volljährige? Dieses Armutszeugnis habt ihr, vor allem ihr jungen Zocker aller Plattformen, nicht verdient. Klar gibt es da draußen brutale Vollidioten zwischen 12 und 25, aber zwischen 35 und 55 sieht`s genau so und im ach so heiligen „früher“ sah`s schon gar nicht anders aus. Gerade jetzt, wo Philosoph Kant zu seinem 200. Todestag Feuilletons und Fernsehsendungen flutet, schwelgt Volkes Stimme im nostalgischen Entsetzen: „So was hätte es damals nicht…“

Unsinn! Erstens hat es kollektive Foltereien und Kulturbanausen schon immer gegeben: Man lese Musils Zögling, um darüber zu erschrecken, wie sich unsere Urgroßväter anno 1900 in Internaten quälten. Man lese Voltaire oder Heine, um darüber zu lachen, wie die Massenverblödung auch ohne Fernseher und Computer grassierte.

Zweitens bemerkt niemand, dass da ein verpöntes Medium so langsam kulturelle Aufgaben übernimmt: die Spiele! Keine Fernsehsendung, kein Nachrichtenmagazin und schon gar kein deutsches Feuilleton scheint es zu interessieren, dass PC und Konsole nicht nur Spaß entfachen, sondern auch die geisteswissenschaftliche Neugier wecken.

Schaut doch mal genau in die Foren! Ich rede nicht von der Masse, nicht vom legasthenischen Geflame. Es geht mir um die tieferen Ebenen: Ich rede vom Streit über die Ursachen des Vietnamkriegs, der mit Zitaten aus Geschichtsbüchern geführt wird. Ich rede von Disputationen zur nordischen oder keltischen Mythologie in Dark Age of Camelot-Kreisen. Ich rede von philosophischen Debatten über Subjektivität und Objektivität, von ernsthaften Gesprächen über das Für und Wider von Kriegsspielen. Einige dieser Diskussionen enden mit der Überzeugung des anderen durch Argumente, manche sogar mit dem Austausch von Literaturhinweisen!

Hallo, ihr lieben Journalistenkollegen von SZ, TAZ und FAZ? Hallo Stern, hallo Spiegel? Hallo ARD, ZDF, Arte - meinetwegen auch hallo RTL2? Klingelt da gar nichts? In den Foren der Computer- und Videospielszene geht es teilweise fruchtbarer zu als im totlangweiligen Frontal-Unterricht. Das ist praktizierte Dialektik, da riecht es nach Sokrates und Platon. Hier tummeln sich bei genauerem Hinschauen zukünftige Akademiker!

Manchmal kann der Weg von einem Spiel direkt an die Uni führen: Von Age of Kings zur Alten Geschichte, vom Afrika Korps zur Militärgeschichte, von Shenmue zur Japanologie, von DAoC zur Nordistik, von einer schlechten Lokalisierung zu den Sprachwissenschaften, von Max Payne zur Philosophie – oder wenigstens zu den Film- & Fernsehwissenschaften. Das Bildungsministerium sollte die Spiele-Entwicklung fördern, bestimmte Games als Unterrichtsmaterial nutzen! War es wirklich so? Was ist wahr, was ist falsch?

Denn woran Eltern und Schulen scheitern, wird immer öfter von Mattscheibe und Monitor geweckt: Die Lust auf Sprache, Geschichte, Literatur und Kultur. Diese Faszination, etwas Neues zu entdecken, ist der Kern, ja die Voraussetzung für Bildung. Schon wenn es damit anfängt, dass man einen der vielen historischen Fehler oder Verfälschungen in Spielen entdeckt, dass man das einseitig westliche Weltbild von C&C: Generäle durchschaut oder sich am liebsten in englische Originale vertieft – das ist die Saat, die irgendwann aufgeht.

Wie lautet gleich der Slogan der europäischen Aufklärung? „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Genau das machen da draußen Heerscharen von Zockern, wenn sie sich über die Propaganda in Americas Army oder die Brutalität in Manhunt streiten. Nicht immer auf hohem sprachlichen Niveau, aber sie tun es!

Und selbst wenn nur ein einziger von hundert Spielern zum Buch, selbst wenn nur eine einzige von tausend Forendebatten konstruktiv geführt wird, selbst wenn nur ein einziger von zehntausend Zockern aufgrund eines Spieles den Weg zur Uni findet, ist das ein kultureller Erfolg! Denn eigentlich sollten Spiele schlicht und einfach rocken, Spaß machen, gute Entertainer sein. Wer hätte vor zwanzig, dreißig Jahren gedacht, dass die Erben von Pong & Mario darüber hinaus mal einen Bildungsauftrag erfüllen?

Also lasst euch die Spiele und eure Jugend nicht vermiesen! Lasst euch nicht vom erhobenen Zeigefinger der Tagespresse runtermachen, sondern feiert die Spiele als kulturell wertvolles, höchst inspirierendes und in letzter Konsequenz bildendes Medium!


Jörg Luibl

4P|Textchef