Die verflixte Spieledepression
Eine Kolumne von Jörg Luibl, 20.02.2004

Eine verkannte Volkskrankheit geistert durch alle Gazetten: Deisler kommt gerade vom Therapeuten, Max Strauß will noch auf die Couch und Pantani scheint das Schreckgespenst Depression gleich ins Jenseits befördert zu haben. Alle hatten irgendwie zu viel. Zu viel vom Sport, zu viel Druck, zu viel Belastung. Und selbst Harald Schmidts Rückzug aus dem Showgeschäft riecht nach den depressiven Folgen eines unglaublichen Pointen-Overkills.

Aber kennt ihr Zocker das nicht auch? Wenn man sich die Überdosis Levelfraß oder die nächtelange Klickorgie gegeben hat? Wenn sich diese totale Lustlosigkeit anschleicht, die aus dem quietschfidelen Spielekonsumenten urplötzlich einen schwermütigen Spielepatienten macht? Lethargisch, sonnenscheu und wortkarg schlurft man vom Stuhl zur Couch, vom Kühlschrank zum Klo. Man denkt im düsteren Wahn sogar an Brettspiele.

Manchmal hat man die Spielefaxen einfach so dicke, dass einem selbst die Top-Games im besten Fall nicht mehr als ein gelangweiltes Gähnen, im schlimmsten Fall sogar Kopfschmerzen bereiten. Man versucht`s mit einem Level Max Payne 2, aber seine suizidverdächtigen Selbstgespräche machen`s nur noch schlimmer. Vielleicht Zelda? Aber die knallgelben Farben schreien mich an, die Kulleraugen machen regelrecht aggressiv. Selbst bei einer Partie Pro Evolution Soccer 3 liegt das Pad schlaff in der Hand.

Das Schlimmste, was einem jetzt passieren kann? Ein schrilles Klingeln, hinter der Tür ein Freund mit dem aktuellen GameStar, ein diebisches Zweikampfleuchten in den Augen, nervös an seinem Pad nestelnd...

...am besten gar nicht erst aufmachen. Denn egal, was man versucht: Das Feuer ist erloschen, die Mattscheibe flackert nur noch grell, die magische Verbindung zur Spielspaßseele scheint gekappt. Und irgendwie hängt einem die plattformübergreifende Rundum-Unterhaltung zum Halse raus. Man schmeißt den Fernseher an, zappt umher, glotzt eine Sekunde Giga und der Brechreiz kommt.

Was tun, wenn plötzlich die Spieledepression wütet? Kaffee mit Zitrone? Kalt duschen? C-64-Emulatoren anschmeißen? Oder tatsächlich ein Brettspiel-Abend mit Freunden? Aus medizinischer Sicht alles Unfug. Wer die Schocktherapie mit Wirkungsgarantie will, muss zum langsamsten und ältesten Medium der Geschichte greifen: dem Buch!

Ja, da zucken jetzt viele Zocker verschreckt zusammen. Aber hat nicht schon immer die bitterste Medizin geholfen? Also bitte: nur nicht so schreckhaft, die Herrschaften! Außerdem ist es garantiert polygonfrei, levelfrei, effektfrei, endgegnerfrei, cheatfrei, bugfrei und lässt sich selbst mit Jahrzehnte alten Augen ruckelfrei genießen.

Aber Vorsicht: Man sollte nicht den Bestseller, den schnellen Krimi oder andere Seitenfresser versuchen – das wäre kontraproduktiv und hilft eher der Buch- als der Spielebranche. Nein, eine ganz üble Pille muss her, ein klassischer Wälzer von Format – am besten tausende Seiten stark, todlangweilig und angestaubt.

Meine Empfehlungen, in zahlreichen Selbsthilfegruppen getestet: Versucht es mit Adalbert Stifters „Nachsommer“, Theodor Fontanes „Stechlin“ oder Charles Dickens´ "Bleakhaus". Schön langsam, jeden Tag eine Seite. Natürlich ganz alleine und weit weg von Couch und Pad, Tisch und Maus.

Die heilende Wirkung kommt dann von ganz alleine. Denn wenn auch nur ein letzter Funke eines echten Zockers in euch glimmt, dann schwöre ich euch: Spätestens nach einer Seite summt der Lüfter, singt das Laufwerk und die Spielfreude ist plötzlich wieder da!

Und wenn nicht? Solltet ihr Literatur studieren...


Jörg Luibl
4P|Textchef