Der überschätzte Vollkörpercontroller
Ein Kommentar von Jörg Luibl, 02.06.2009

Habt ihr das Video gesehen? Oder die Microsoft-Presskonferenz live verfolgt? Hey, da hat ja ein Hersteller keinen Excelhengst der potenten Statistiken durch die Verkaufszahlenprärie geritten und die Konkurrenz blöde angewiehert, sondern tatsächlich eine kreative Vision angeboten - dafür erstmal schönen Dank! Ich hatte schon befürchtet, dass niemand aus dem Fiasko des letzten Jahres lernt. Okay, die guten Spiele kommen alle erst 2010 und die ganz großen Weihnachtsbomben wurden nicht gezündet. Trotzdem: Microsoft hat gut vorgelegt.

Denn jetzt wird endlich wieder über die Spielezukunft spekuliert! Und wie: Gegen das Full Motion Body Capturing von Project Natal wirkt WiiMotion ja wie Treppenwitz aus der Fuchtelsteinzeit! Man muss natürlich festhalten, dass sich Microsoft hier mit Vollgas auf die bewegungssensitive und höchst erfolgreiche Nintendostraße begibt - ganz im Sinne der von Denis Dyack prophezeiten One-Console-Future, in der sich alle Konkurrenten zwangsläufig immer weiter angleichen. Wie recht er doch hätte, wenn Sony heute (e)motional nachlegen und Nintendo plötzlich das HD-Signal entzünden würde.



Project Natal: Microsoft präsentiert eine neue Dimension des Controllers - den ganzen Körper!

Video 1: E3-Trailer
Video 2: Pressekonferenz-Vorführung
Hat die Xbox 360 durch die unerwartete Geburt von Project Natal nicht an Wii-Reizen gewonnen? Oh ja! Nintendo hat die Leute richtig heiß auf kleine Bewegungsspiele im Wohnzimmerkäfig gemacht, Microsoft will sie jetzt mit einer noch schärferen Show ins große 3D-Stadion locken. Und eines muss man Redmond lassen: Wenn sie kopieren, dann richtig - das sind fast schon japanische Tugenden! Okay, eigentlich israelische, denn hinter der Technologie steckt die Anfang des Jahres gekaufte Firma 3DV Systems , die sich darauf spezialisiert hat.

Aber was soll die nationale Haarspalterei? Diese technologische Akquise hat sich scheinbar gelohnt, denn Molyneux kniet schon (wieder) vor einem neuen Gott, der die alte Gamepadketzerei ein für alle mal beenden wird - Peter lässt sich gerne bekehren, schließlich weiß er, wie viele böse Götzen man mit Buttons beschwören kann. Was man im Gegensatz dazu alles im Project Natal machen kann: Der Körper wird ja komplett mit allen Gliedmaßen gescannt und auf dem Bildschirm erkannt; genau so wie alle Gesten und sogar die Stimme - Wahnsinn, oder? Was passiert eigentlich mit all den schwer übergewichtigen Zockern der Marke Supersize Me inklusive Piepsstimme? Musste Nintendo nicht sogar das Balance Board für Übergewichtige in Übersee anpassen?

Aber zurück in die coole Scanzukunft: Das geht so weit, dass man so tut, als hätte man ein Skateboard unter den Füßen oder ein Lenkrad in der Hand: Man springt, dreht und windet sich an oder auf...nichts! Die Hände ahmen einfach den Controller nach, die Beine gehen in die Halfpipe-Stellung. Man tritt gegen nicht vorhandene Bälle oder schlägt auf ebensolche Feinde, während auf dem Bildschirm das Netz flattert oder die Wange klatscht. David Copperfield hat die Magie des Unsichtbaren perfektioniert, jetzt zaubert Microsoft die Zukunft der Spielewelt aus dem Hut.

Skeptiker müffeln ja, dass das nicht mehr als EyeToy 2.0 sei. Nein, nein, das ist schon etwas mehr: Immerhin kommt zur Bewegungs- jetzt auch eine Tiefen- und Sprachenerkennung. Man wird ja sogar von einem Avatar nach einem RGB-Scan durch die Kamera mit Namen begrüßt! Cool. Fast wie in diesen Spielberg-Filmen - endlich kann die Fernbedienung in die Tonne! Dieses mächtige Trio darf man also auf keinen Fall unterschätzen, denn es eröffnet einige bisher brach liegende Möglichkeiten in der Entwicklung, ja regelrechte Revolutionen der interaktiven Unterhaltung! Könnte Tennis nicht erst damit richtig rocken? Oder ein Rock Band-Gig mit Stagediving und aktiver Gitarrenzertrümmerung?

Aber spätestens als Molyneux' auftauchte, waren Vision und Ernüchterung plötzlich in einer Person auf der Bühne - als würde Gerhard Schröder auf einem Gewerkschaftstreffen seine Rettungsstrategie in der Finanzkrise ankündigen. Wer einmal zu viel verspricht, dem traut man eben nicht. Und als Peter dann auch noch den guten alten Controller niedermachte, der ja die Schuld daran tragen soll, dass bisher alle Spiele so sperrig, trennend und kompliziert und doof waren, musste man doch schmunzeln. Hey, das haben Competition Pro & Co nicht verdient!

Immerhin konnte er mit Milo tatsächlich eine inspirierende Vision live vorführen: Die der emotionalen Immersion. Sprich: Das Abtauchen in eine lebendige Welt, in der auf der einen Seite sowohl die Charaktere sehr menschlich wirken, da sie über ihre Gestik und Mimik z.B. Traurigkeit ausdrücken, aber in der ich auf der anderen Seite als Charakter auch aktiv wahrgenommen werde und nicht nur reagieren kann. Das sah alles überaus offen und intuitiv aus. Die Szene mit dem Mädchen an dem Teich hatte tatsächlich etwas Faszinierendes, denn sie konnte für einen Moment die Tür in eine emotionalere Spielezukunft öffnen. Aber ist Molyneux nicht der Meister der kurz vor Release zugeschlagenen Türen und geplatzten Versprechungen?

Die anderen Beispiele in diesem Video wirkten da schon handfester und machbarer: Elfmeterschießen, Beat'em Up, Breakout, Skaten. Okay, das kollektive Simulieren von Materie sieht in den Microsoft'schen Werbetrailern genau so bescheuert aus wie das kollektive Grinsen in den Wiivideos. Aber in beiden Fällen soll ja die ganze Familie, also die komplette, meist übergewichtige und sportfaule Zielgruppe ihren Spaß haben. Wie man da den überfetteten Körper auf Vordermann bringen kann, wenn der Vollkörpereinsatz gefordert wird: Vorbei sind die Zeiten der weißgesichtigen Couchzombies mit Tunnelblick, Bierwampe und zittrigen Controllerklauen! Vorbei epileptisches Button-Mashing - oder kann man den einzelnen Knopf auch unsichtbar simulieren? Vorbei der Visagensozialismus der ewig gleichen Shooterglatzköpfe - man kann sich ja selbst spielen!

Moment: Will man das überhaupt? Will man diese Grenzen sprengen? Will man diesen ganzen Akrobatikzirkus? Will man sich zum Schatten boxenden Tanzmattenaffen machen und dabei seinen elenden Rundrücken, die eingescannten X-Beine und - oh mein Gott - die eigene Visage sehen? Was ist mit all den Zockern, die regelmäßig zum Orthopäden oder in die Reha müssen? Und diskriminiert Microsoft nicht gerade die halbe USA?

Erstens sieht man in der Regel bescheidener aus als Solid, Link oder Sam. Zweitens strengt das ganz schön an, wenn man in Vollkörperaction springen, treten, hüpfen oder zulangen muss. Für Fitness-Spiele mag das eine klasse Idee sein. Aber wer schon einmal Paintball gespielt hat, der weiß, wie schweißtreibend der echte Schusswechsel samt Deckungsgehüpfe ist. Ich soll Gears of War Natal Edition live spielen? Oder Dead or Alive Motionfight? Haut bloß ab - nach einem halben Level bin ich platt!

So interessant die Microsoft'sche Vision in einigen Bereichen sein mag, so sehr ich mich vor allem auf emotionalere Spielerlebnisse freue, die auf Wahrnehmung von Gefühlen beruhen, so sehr ernüchtert mich die Vorstellung einer controllerfreien Spielezukunft. Die wird es auch nicht ausschließlich geben, denn Peter Molyneux hat da etwas voreilig Joystick, Gamepad & Co zu Grabe getragen. Und vor allem hat er sie als Hindernisse dargestellt - und das ist spielehistorischer Unsinn. Es sei denn, man betrachtet ein Gamepad à la Spielberg wie einen Fremdkörper aus dem All. Diese Skepsis sollte man im Jahr 2009 höchstens in Altersheimen beobachten, nicht bei einem Regisseur seiner Größe.

Man darf nicht vergessen, dass die Faszination vieler Spiele wesentlich damit zusammen hängt, dass man nicht sich selbst, sondern jemand anderen, und zwar einen Helden oder eine Heldin, einfach dank Analogstick und Knopfdruck steuern und erleben kann - während man gemütlich auf der Couch sitzt, kann man Welten retten! Und das, obwohl man selbst einen schrecklichen Body Mass Index besitzt und noch nicht mal einen Dackel erschrecken könnte - geschweige denn eine Halbzeit auf Profiniveau kicken.

Genau damit, mit dieser Möglichkeit des plötzlichen Rollentausches, des schnellen und unkomplizierten Abtauchens, ist die alte Spielwelt schon jetzt viel näher an dem, was uns im Kino oder beim Lesen fasziniert, als Microsoft, Spielberg und Molyneux denken. Ich kann entspannt erleben, erobern, erforschen und auch emotional berührt werden. Man müsste die aktuelle Technik nur viel öfter für andere Spielerlebnisse und Ideen nutzen. Man braucht kein Full Motion Body Capturing für packende Unterhaltung - man muss nur an Alan Wake, Trico, Heavy Rain, Beyond Good & Evil oder das kommende Zelda oder Mario denken; die wird Nintendo doch heute um 18 Uhr in der Pressekonferenz beschwören!

Letztlich hapert es viel mehr an der Kreativität der Entwickler und dem Mut der Publisher als am guten alten Gamepad. Ich will nicht schwitzen, ich will noch nicht mal springen oder in die Knie gehen - ich will unterhalten werden. Ich brauche dafür die Sticks, die Knöpfe und vor allem markante Charaktere, die ich nicht schon morgens im Spiegel verfluche.


Jörg Luibl
Chefredakteur