Der Spielefresser
Eine Kolumne von Jörg Luibl, 26.03.2004

Gulo gulo. Wolverine. Järv. Was hat dieses Kauderwelsch mit der Spielewelt zu tun? Ganz einfach: Alle drei bezeichnen im Reich der Tiere den nimmersatten Vielfraß. Egal ob Beeren, Wespen, Hühner, Marder oder Katzen – der kräftige Jäger verschlingt alles, was ihm in die Quere kommt. Er ist ein Einzelgänger, lebt in Baum- und Erdhöhlen, ist tag- und nachtaktiv sowie ausgesprochen anpassungsfähig.

Na, klingelt`s? Kein Wunder, denn auch in der Zockerzoologie ist diese Spezies längst bekannt: der Spielefresser, der Homo sapiens gamensis. Getrieben vom Hunger, vom schrecklichen Lechzen nach Futter, jagt er seine kleinen bunten Schätze ausdauernd und unnachgiebig. 

Aber der menschliche Gulo gulo ist eine Rarität. Es handelt sich nämlich nicht um den Quartalszocker, der sich extra für den Urlaub mit einem Titel in der Luxusedition eindeckt. Auch nicht um die Clan-Shooter, nicht um die Xbox-Puristen oder die Nintendomanen – das sind alles Herdentiere ohne den wahren, den bedingungslosen Futter- und Reinzocktrieb.

Nein, nein: Es geht um den gnadenlosen Spielefresser, den Alleszocker par excellence! Ein Blick in seine Wohnhöhle genügt, um die Gattung sicher zu bestimmen: Da gehören der PC und die europäischen Varianten der Konsolenwelt zur Standardausrüstung. Die amerikanischen und asiatischen PS2s, GameCubes und Xbox`en lauern im Dunkel der meist schlecht beleuchteten, nach alter Pizza und Kunststoff miefenden Kaschemme.

Kabelsalat? Lächerlich! Hier gibt`s dichten Kabeldschungel: Lang wie Anakondas, bunt wie Paradiesvögel schlängeln sie sich unter modrigen Teppichen, über Wände und hinter Schränken hin zu den elektronischen Fressnäpfen. Da geht es nicht um einen Dreierstecker, sondern um die zweite Zwölfersteckleiste! Da geht es nicht um ein, zwei Scart-Anschlüsse, sondern um die dritte Verteilerdose für das Dutzend vergoldeter RGB-Kabel!

Auf seinen Fresswanderungen streift er zielstrebig durch die Innenstadt, wühlt sich nervös durch einschlägige Shops oder surft sich einen Wolf zwischen Ebay, Amazon und Liksang. Hat er etwas gewittert, das noch nicht auf seiner Zweitfestplatte oder in den meterlangen Regalkonstrukten schlummert, schlägt er blitzschnell zu.

Natürlich ist der Spielefresser ein scheues Wesen. Man muss sich schon sorgfältig umschauen und -hören, um ihn zu entdecken. Aber er unterscheidet sich grundlegend von Otto Normalzocker. Woran man ihn in freier Wildbahn erkennt?

Er lästert nie über eine bestimmte Konsole – das würde die Nahrungskette nur unnötig eingrenzen. Grafikkartendebatten? Interessieren ihn nicht; in seinem Zweitrechner steckt eh die Alternative. Er hat kein einziges Lieblingsspiel, dafür unendlich viele Lieblingsreihen. Er kennt alle Releasedaten des letzten Jahrzehnts. Er feilscht über Mengenrabatte mit seinem Importhändler und quält sich mit existenziellen Fragen wie der Unterbringung des dritten Fernsehers.

Ja, der Spielefresser ist in vieler Hinsicht ein Experte, ein Profi, ein Alleskenner. Trotzdem fordert die alles verschlingende Generalisierung ihren Tribut: Im Laufe der Evolution verkümmerten Leidenschaft und Disziplin. Auspacken, reinbeißen, antesten. Auspacken, reinbeißen, antesten. Von Genuss kann hier keine Rede mehr sein, denn der Zwang Neues zu erlegen ist übermächtig.

Deshalb fürchten diese nimmersatten Konsumschweine eine Frage ganz besonders: Wann hast du das letzte Mal was durchgespielt? Dann perlt der Schweiß, dann bleicht der Teint und Finger nesteln nervös in Taschen. Vor allem, wenn man nicht ganz schnell die beste Alibi-Seite aller Frühaufgeber, Nie-den-Abspann-Blicker und frustrierten Spieletester ansurfen kann: www.gamefaqs.com.

Auch die gesundheitlichen Nebenwirkungen der plattformübergreifenden Alles-Spiel-Orgien sind nicht ohne: Da sind diese Ringe unter den Augen, da ist das Hohlkreuz, das sich gefährlich biegt, da ist die Magensäure, die feurig blubbert. Finanziell sieht`s auch nicht gut aus - das Konto knarrt fast so laut wie die Gelenke.

In Zeiten von Lohnkürzungen, Riester-Rente und 60-Euro-Games ist die Spezies des Spielefressers daher fast vom Aussterben bedroht. Hinzu kommt eine Titelflut, die selbst alte Videospiel-Alphatiere, also echte Gulo gulo-Saurier mit gehobenem Einkommen, nicht bewältigen können. Viele hocken total verschuldet und sozial isoliert in unzugänglichen Kellern.

Aber es gibt Orte, wo man sich um euch kümmert; Reservate, wo man eure Qualitäten schätzt und fördert. Wo Artgenossen warten und wo sich jeden Tag frische Beute selbstlos zum Verzehr niederlegt.

Also duscht euch, zieht saubere Klamotten an und werdet Spieletester!


Jörg Luibl
4P|Textchef