Dumm, dümmer, Embargo!
Ein Kommentar von Jörg Luibl, 18.11.2009

Die Spielewelt ist ein komischer Verein, oder? Fast wie Karneval: Alles schön bunt, manchmal etwas erregt oder auch so peinlich lallend auf der Bühne der Öffentlichkeit, dass man kräftig den Kopf schütteln muss - ich empfehle Pressemitteilungen in der Vorweihnachtszeit nur nach Absprache mit dem Hausarzt zu lesen. So manche Publisherprinzen nehmen sich sogar so wichtig, als ginge es um große Weltpolitik, wenn sie für kurze Zeit mit "ihrem Produkt" im Rampenlicht von MediaMarkt oder RTL2 stehen.

Ich spreche von Embargos. Ich spreche von dieser aufgeplusterten, fast schon geheimdienstähnlichen, im Ansatz korrupten und vor allem schrecklich anachronistischen Terminpolitik, die die Presse im Zeitalter des Internets bevormunden oder im Vorfeld beeinflussen will. Was soll das eigentlich? Was steckt dahinter? Reden wir mal Tacheles!

In der Spielewelt sind Embargos zum einen der künstliche Artenschutz für Printmagazine, damit diese sich über "zeitexklusive" Themen über Wasser halten können - und das, obwohl alle Verlage mittlerweile parallel im Netz publizieren und ihr Gedrucktes einfach online schubsen können. Trotzdem werden Embargos geteilt: Es gibt einen frühen Veröffentlichungstermin für Print-Magazine, dann vielleicht zwei Wochen später einen für Online-Magazine. Das geht so weit, dass man auf der Webseite erst eine Vorschau anbieten darf, obwohl am Kiosk schon Tests raus sind. Es gibt sogar Zeiten, da gibt es ein Embargo für Deutschland, obwohl das Spiel schon in Amerika oder Japan im Handel (!) ist. Während Millionen Menschen spielen, soll Presse schweigen?

Man verlangt tatsächlich von Medien im Internetzeitalter, wo jedes Gerücht in null Komma nichts getwittert oder gebloggt wird, dass sie Informationen später anbieten als die kostenpflichtigen Schildkröten, die aus der Druckerpresse kriechen. Aus journalistischer Sicht ist das alles ein Witz. Und viele halten sich nur aus Tradition daran oder weil man es sich nicht mit den Herstellern verscherzen will - nicht, dass man am Ende keine Kekse mehr auf einem Event, keine Deluxe Editions zum Advent oder gar eine Rücksendeforderung für all die Debug-Konsolen bekommt. Es gibt so viele kleine Annehmlichkeiten, auf die man bei all zu früher oder kritischer Berichterstattung verzichten muss. Es soll sogar schwarze Listen geben, auf die man gerät, wenn man als Journalist darüber berichtet, dass ein Publisher die Unwahrheit sagt - zum Beispiel, dass ein Spiel komplett ungeschnitten sei.

Um so etwas zu verhindern, gibt es Embargos. Sie dienen aber zum anderen auch der Regulierung von Euphorie, damit der Durchverkauf des Spiels am ersten Wochenende reibungslos und möglichst ohne lästige Irritationen wie "Ist ja doch geschnitten!" oder "Spiel ist voll verbuggt!" oder (oh mein Gott!) "Das ist gar nicht geiles Gameplay!" läuft. Aktuelles Beispiel: Activision wollte, um die Geheimnisse der "für Call of Duty revolutionären Story" (das ist tatsächlich ein Zitat) zu wahren, durchsetzen, dass weltweit kein Test vor dem Releasetag erscheint. Und das, obwohl es auf YouTube schon zig Spielszenen zu sehen und im Internet schon zig Online-Matches gab! Wie naiv sind die Herren eigentlich, ein Embargo auf den Streetday zu legen? Wer kann einen Blogger daran hindern, eine Review auf Grundlage eines Videos zu schreiben? Wer könnte Presse daran hindern, schon aus der Vorschau oder gar einem Spielszenentrailer einen Test zu machen? Niemand! Wir machen das nur deshalb nicht, weil wir wie viele andere immer sauber, also mit der finalen Fassung arbeiten wollen - also schickt sie allen testenden Medien so früh wie möglich!

Embargos dienen aber auch der Meinungsmache: Publisher wollen gezielt mit ausgewählten Pressepartnern positive Stimmung erzeugen und hochprozentige Dominosteine kippen lassen, bevor die anderen überhaupt den Mund aufmachen. Wenn eine Redaktion frühzeitig garantiert, dass das Triple A-Spiel im Test eine Höchstnote bekommt, dann machen Publisher und Spielepresse einen schönen Deal - die Computer BILD Spiele wollte da kürzlich nicht mitmachen, als Ubisoft nachfragte ob Assassin's Creed II denn auch ein "sehr gut" bekommt.

Nicht falsch verstehen: Es ist auch gar nicht verwerflich, eine frühere Veröffentlichung des Artikels in Absprache mit dem Publisher anzubieten, wenn man als Spiele-Magazin ohnehin mit der Testarbeit durch ist und ein Spiel aufgrund seiner Qualität feiern will. Das soll ja vorkommen, dass auch Awards für wirklich gute Spiele vergeben werden. Problematisch wird es erst, wenn eine Redaktion schon vorher eine Awardgarantie gibt.

Wir haben Electronic Arts z.B. gesagt, was wir von dem Embargo von Dragon Age: Origins halten, nämlich gar nichts, und angefragt, ob wir den Test früher bringen können. Das wäre mit Wertung nur möglich gewesen, wenn wir mindestens die 90% zugesagt hätten - zu dem Zeitpunkt hatten wir aber gerade mal die Hälfte des Spiels durch und abgelehnt. Aus dieser Situation ist dann der geteilte Test mit zeitversetzter Wertung entstanden, denn damit hat weder EA noch Ubisoft oder Sega oder sonstwer ein Problem. Warum eigentlich nicht? Könnte man da nicht auch alles verreißen? Ja, aber ohne Zahl!

Embargos sind nämlich eng verknüpft mit der Wertungsproblematik. In der Spielebranche gilt nicht der Grundsatz "bad publicity is better than no publicity", sondern "bad rating is the fucking worst publicity" - deshalb will man in den Chefetagen möglichst alles unter Kontrolle haben, was numerisch unters Volk gebracht wird. Wobei fucking manchmal bei unverschämten 89% und worst bei unerträglichen 79% anfängt - für Bereiche darunter gibt es keine anglizistischen Aggroverstärkungen, die ein Marketingmensch mit Umsatzgehirn verstehen würde. Für ihn zählen nur die Zahlen am Ende eines Tests und vor allem zählt die lupenreine Weste des internationalen Schnitts. Na, klingelt da was? Richtig: Alte Scheiße Durchschnitt.

Der ganz große Deal beginnt meist jubelnd eine Woche exklusiv in Amerika mit 98% oder 11/10, bevor dann die anderen Regionen einstimmen, bei denen das Embargo endlich fällt. Wenn die regionale PR es in den anderen Territorien von Italien bis Norwegen jetzt noch hinkriegt, dass die dortigen Print- und Online-Magazine auch so hoch jubeln wie in Texas, dann hat man sein Ziel erreicht und für breite Euphorie gesorgt, bevor der Rest der Presse loskritzeln kann: Hey, IGN hat 99,8% gegeben? Wahnsinn! Das muss ja fantastisch sein!

Denn auch im Rahmen der Embargos zieht der dumme, weil die Qualität der Spiele vollkommen verachtende Mechanismus des Reportings. Was ist das? In jedem Territorium müssen sich die PR-Manager vor ihren Chefs verantworten, indem sie ihnen regelmäßig Listen mit Wertungen aller Print- und Online-Magazine schicken. Da steht keine einzige Zeile der Argumentation drin, da spielt die tatsächliche Qualität des Spieldesigns gar keine Rolle, da steht einfach nur Magazin, Zahl und vielleicht ein Satz aus dem Fazit - es wird also nur die Wertung kommuniziert! Dieser Zirkus ist eine Farce, die den Kern der Faszination und das Verkaufsargument Nummer eins mit Füßen tritt: Den tatsächlichen Spielspaß.

Und wenn in dieser Liste trotz aller Embargos und Zuwendungen ein "Ausreißer" oder gar mehrere auftauchen, dann bekommt der PR-Mensch ordentlich Ärger. Man geht nämlich davon aus, dass man selbst bei kritischen Magazinen über gute Public Relation immer noch fünf bis zehn Prozent rausholen kann. Deshalb würde man den Jubel über eine Abschaffung der Wertung bei 4Players.de von den Alpen bis zur Nordsee hören - was Besseres kann dem Schnitt und der PR gar nicht passieren. Natürlich würden wir dann weniger Faxe und mehr Kekse bekommen, aber wir würden uns aus dem Wettbewerb schmeißen; der ist zwar krank, aber die Ursache ist nicht die Kritik als solche oder die Zahl, sondern der Umsatzdruck, das Gieren nach mehr, mehr und noch mehr.

Denn Verrisse können nicht nur den Aktienkurs treffen, sondern auch Konsequenzen für den Geldbeutel des betreffenden PR-Manns haben. Es gibt Verträge in der Spielebranche, die Bonuszahlungen an die Anzahl von Coverstories, Top-Platzierungen oder den Wertungsschnitt knüpfen. Unfassbar, oder? Dabei könnte man doch meinen, dass so ein Beruf meilenweit entfernt ist von der Kunst des oder dem Verständnis für Spieldesign! Und selbst wenn er nicht diese bedrückenden Klauseln in seinem Arbeitsvertrag hat, bekommt er es mit seinem erbosten Vertriebs-Kollegen zu tun, der auch noch Druck vom empörten Handel bekommt, also von all den Großbestellern à la MediaMarkt, die ihre Lager möglichst mit "Top-Produkten" füllen wollen. Diese orientieren sich ebenfalls nur an Zahlen im ebenso großen wie blöden Schnittbereich. Wenn da zu früh kritische Tests (mit Zahl!) erscheinen, dann beschwert sich der MediaMarkt-Einkäufer und es werden schon mal Tausende Bestellungen von Mario 6, Sonic 7 oder Rayman 8 storniert.

Dann sind alle traurig, rufen bei Chefredakteuren an und brüllen wie Affen ins Telefon, dass man Spiele absichtlich kaputt schreibt oder sich nur profilieren will. In den Spiegel schaut dabei niemand, das wäre ja auch peinlich. Diesen idiotischen Teufelskreis, der übrigens auch viele Kollegen der deutschen PR so richtig ankotzt, hat sich die Branche selbst geschaffen, weil die Hersteller und die Presse zu lange ein ungesundes Verhältnis der Abhängigkeit sowie den immer größeren Umsatz bei immer größerem Hype gepflegt haben. Wenn Publisher schon im Vorfeld in Pressemitteilungen überschwänglich von Vorverkaufsrekorden sprechen und von breitem Jubel in der Fachpresse schwadronieren, aber gleichzeitig mit ihren Embargos bis fast zum Verkaufstag große Teile der Presse knebeln, dann ist das nichts als eine publizistische Verarschung.

Einerseits ist es ja zum Totlachen, wie kleingeistig sich die "Big Player" der Branche in dieser Hinsicht verhalten, andererseits sind Embargos auch ein Beispiel für die innere Krankheit der Spielewelt, deren Hersteller sich in ihrer Hybris manchmal wie Staaten aufführen. Echte Embargos sind ja ein außenpolitisches Mittel der Behinderung: Es gibt Voll-, Teil- und Waffen-Embargos gegen Länder wie den Irak oder Sudan. Und schon Napoleon wusste um ihre Macht: Seine Kontinentalsperre gegen England sorgte für den Zusammenbruch des Handels zwischen der Insel und dem Rest Europas. Aber einige Hamburger Reeder haben schon damals clevere Schleichwege über die Nordsee gefunden, um den Schwarzmarkt Londons mit gutem hanseatischen Schnaps zu bedienen.

Auch wir werden unsere Leser in Zukunft so gut und schnell wie möglich mit Informationen zu den wichtigsten Spielen bedienen - unser Schleichweg ist bisher die Aufteilung der Testartikel. Wir werden uns aber so weit wie möglich von dieser Bevormundung lösen, die teilweise in Verträgen formuliert und inklusive der Androhung hoher Geldbußen unterzeichnet werden muss. Und wenn es sein muss, wenn das weiter in anachronistischem Unsinn ausartet, dann kappen wir alle Seile zur PR, dann machen wir alle Schotten dicht, verzichten auf Vorab-Events, unterschreiben nichts mehr und berichten nur noch auf Grundlage von Videos und Verkaufsversionen.

Mehr als drei Jahrzehnte nach Pong und zig Millionen Euros vor Augen scheint man nämlich in einigen Bereichen der Spielebranche nicht mehr ganz klar zu erkennen, um was es geht. Vielleicht bräuchte man mal einen Scheibenwischer in den Chefetagen von Activision, EA, Ubisoft & Co? Der könnte die Schmiere beseitigen und den Blick für diesen terminierten Unsinn frei machen: Wer Qualität entwickelt und von seinen Spielen überzeugt ist, der braucht auch keine Angst vor frühzeitiger Berichterstattung haben - also weg mit den dummen Embargos!


Jörg Luibl
Chefredakteur