Anonymer Hilferuf
Eine Kolumne von Jörg Luibl, 30.04.2004

Als wäre sie aus dem Nichts gekommen taucht sie aus dem Nebel auf. Sie lächelt schelmisch, strahlt so schön wie ein Frühlingsmorgen. Ach, wie schmilzt das Abenteurerherz dahin bei diesem Antlitz! Aber was ist das? Plötzlich verschwindet das zauberhafte Wesen hinter eisgrauen Schleiern: Tausende gierige Finger betatschen sie, zerren sie aus dem süßen Traum hinab in die bittere Wirklichkeit.

Hier ist keine Zeit mehr für Romantik und nostalgische Flirts. Hier taumelt sie abwesend durch die Welt, gestützt von pubertierenden Zauberlehrlingen und jeder Menge D&D-Fusel. Stolpert angetrunken von Release zu Release, von einem Baldur`s Gate-Abklatsch zum nächsten, wankt von einer billigen Fotosession zur nächsten Lesung.

Vom Börsenblatt des Deutschen Buchhandels muss sie sich anhören, dass die Menschen ihrer müde seien - der Trend gehe eben weg von Zauber und Magie. Von Analysten muss sie sich vorwerfen lassen, dass die Spieler noch mehr polygonreiches Geschnetzel, noch coolere Effekte verlangen - der Trend gehe eben weg von Epen. Von Testern muss sie sich ermahnen lassen, was für einen geilen Suchtfaktor Action-Rollenspiele auslösen.

Vor acht Jahren begann ihr Abstieg. Sie geriet nach einem heftigen Schneesturm in die Fänge des Teufels, der sie zur stupiden Leveljagd in drei Takten zwang: metzeln, einsacken, aufsteigen. Seitdem gibt sich die einstige Göttin aller Abenteurer blutenden Herzens für all die Freier hin - für Sacred, für Dark Alliance, für Champions of Norrath. Eine Endlosschleife garniert mit 08/15-Story und elender Klischee-Sauce.

Spät am Abend liegt sie dann ausgelaugt und angeekelt auf der Couch, führt wispernd Selbstgespräche: Gibt es da draußen wirklich mehr Levelfresser als Fantasten? Mehr Dauerklicker als Entdecker? Mehr Todesboten als Träumer? Und wenn sie der zuhaltende Alp des Marketings nicht gerade mit Zielgruppenanalysen, Actiontrends und Einsteigerfreundlichkeit malträtiert, träumt sie vielleicht von besseren Tagen, von alten Zeiten...

&vom Pfeife schmauchenden Professor aus Oxford und seinem Mythos, von Simon Schneelocke und Osten Ard, von den Lords aus Winterfell. Sicher auch von Planescape Torment, vom düsteren Morrowind und dem kernigen Gothic. Vielleicht sogar von all den nicht realisierten Welten, die der Macht des Marktes zum Opfer fielen: Torn, Hârn: Bloodline, Baldur`s Gate 3.

Was für eine Tragik! Die Muse aller Magier liegt enttäuscht, missbraucht und delirierend danieder. Dabei verwandelte die Grand Dame der Kreativität noch in den 80ern und 90ern schummrige Keller in heroische Paläste und knisternde Katakomben. Und wie viele durchlesene, durchspielte und durchträumte Nächte verdanken wir ihr?

Aber ist es ein Wunder, dass die First Lady der Imagination so verkommt? Ihr Charme, ihre Ausstrahlung - alles litt unter der Reizüberflutung der letzten Jahre, die in Peter Jacksons pompöser Ringverfilmung gipfelte. Ja, da strahlte die Diva noch mal in sagenhaftem Glanz! Aber das Genre hat seinen cineastischen Zenit überschritten. Seitdem ging es in Herr der Ringe-Socken steil bergab - ganz tief runter in den Keller der Niveaulosigkeit bis zum D&D-Film.

Im Spielebereich hat das zauberhafte Wesen allerdings gar keinen Zenit erreicht: Aus der zarten Schönheit ist viel zu schnell eine schwerbewaffnete Walküre geworden. Nur schreitet sie nicht stolz, sondern geknickt über das Schlachtfeld; schaut sich traurig all die Toten, all die Rollenspielkadaver an, die da verwesen: Pool of Radiance 2, Might&Magic IX, Summoner, Gorasul, Divine Divinity, Der Tempel des Elementaren Bösen, Lionheart, Dungeon Lords, Dungeon Siege.

Wer rettet die Faszination? Wer kann dieses Trauerspiel beenden? Ein Epos? Ja, das wär`s doch! Ein echtes Abenteuer. Aber nicht nach dem Motto "Höher, weiter, schneller", sondern "Tiefer, intensiver, geheimnisvoller"! Mit lebendigen Charakteren und erzählerischen Überraschungen! Ein packendes Rollenspiel, in dem es mehr Fragen als Feuerbälle gibt, mehr Rätsel als Waffen, mehr Herzklopfen als Hitpointkillen. Dragon Age: Origins? Fable III?

Oder hat das Börsenblatt doch Recht? Liegen die Marktforscher richtig? Glaubt man den Buchexperten, schaut man auf die Kinotrends, sind einfach andere Szenarien gefragt: Der Western sei wieder im Kommen. Auch das mystische Asien, allen voran China. Also wird Tolkiens Muse von ihrer Schwester aus Fernost gerettet? Von Final Fantasy XIII und XIV? 

Oder täte strikte Abstinenz mal ganz gut? Also mal ein Jahr kein Spiel mit Zwergen, Elfen und Orks. Mal ein Jahr ohne Zauber und Magie. Mal ein Jahr ohne all die Plagiate, Phrasen, Peinlichkeiten. Mal eine Kolumne, ohne den Namen der sterbenden Göttin auch nur zu nennen - auch, wenn`s schwer fällt.


Jörg Luibl
4P|Textchef