Christentum & Spielewelt
Eine Kolumne von Jörg Luibl, 25.06.2004

Im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung debattieren helle Köpfe seit einiger Zeit darüber, wie christlich Europa eigentlich ist. Da geht es um Eucharistie und Liturgie, um Werte, Ethik und das kulturelle Erbe. Und selbstverständlich wird auf dieser intellektuellen Ebene nicht über Spiele diskutiert.

Ein Skandal! Unsere Gesellschaft besteht doch nicht nur aus Philosophen, Historikern und Theologen, sondern auch aus Heerscharen von leidenschaftlichen Zockern, die ihre Lebenszeit sowohl in virtuellen als auch akademischen Sphären verbringen. Und gerade die Polygonwelten sind ein herrlicher Fundus für die religiöse Mentalität unserer Zeit.

Ich frage mich: Wie christlich ist die Spielewelt?

Es kann doch nicht sein, dass zweitausend Jahre dieses altorientalischen Erlösungsglaubens spurlos an den Bildschirmabenteuern zwischen PC und GameCube vorüber gegangen sind, oder? Es kann doch nicht sein, dass es im Fernsehen einschlägige Sendungen von Fliege bis zum sonntäglichen Wort gibt, aber nichts davon in der Zockerwelt? Selbst im Kino feiern Jesus und Luther Riesenerfolge!

Aber wenn man in den modernen Verkaufstempeln von Saturn & Co nach christlichem Sendungsbewusstsein sucht, wird man nicht fündig werden. Denn hier geht es so heidnisch zu, wie in der Blütezeit der europäischen Götterwelt zwischen Zeus, Cernunnos und Wotan: Es wird um Ruhm gekämpft, für Geld getötet und aus purer Lust an der Macht erobert. Der Spielspaß ist das Seelenheil der Neuzeit!

Der moderne Zocker hat mehr mit römischen Kaisern, wilden Hunnen, stolzen Kelten und furchtlosen Wikingern zu tun als mit Franziskus & Co – jedenfalls als Avatar in der virtuellen Welt. Wer sich als gläubiger Christ an die Zehn Gebote hält, muss PS2, Xbox & Co als Hightech-Pforten zur Hölle empfinden: Du sollst keine anderen Götter haben neben mir? Du sollst nicht töten, nicht stehlen, nicht begehren deines Nachbarn Haus, Vieh noch alles, was dein Nächster hat? Man denke nur an Age of Mythology, Hitman, Thief…

Aber woran liegt das eigentlich, dass die Spielewelt fast schon ein idyllisches Rückzugsgebiet für urheidnische Mythen und wilde Mentalitäten ist? Ganz einfach: Die Macher sind meist kreative Fantasten. Alle Entwickler müssen von Natur aus faszinierte Zocker sein. Und das entscheidende Wesensmerkmal des modernen Spielers widerspricht einfach der Ethik des Christentums: Er will Spaß haben. Frei sein. Genießen. Nicht in einer nächsten Welt, sondern hier und jetzt zwischen Tastatur und Monitor.

Bevor jetzt wieder Pädagogen von einer modernen Zivilisationskrankheit sprechen oder gläubige Seelen vor dem allmählichen Werteverfall durch Videospielkonsum warnen, sei angemerkt, dass diese lüsterne Spaßkultur ihre philosophischen Wurzeln in der Antike hat. Schon die Anhänger Epikurs frönten der Maxime: „(…) die Lust ist Ursprung und Ziel glücklichen Lebens.“

Die Epikureer zogen sich ins Privatleben zurück wie der Zocker in seine Höhle, sie folgten ihrer Neigung, wie der Zocker seinem Genre, und halsten sich mit diesen freizügigen Vorstellungen bis ins 3. Jahrhundert unserer Zeit den Missmut des aufkommenden Christentums auf. Es kam zu einem europäischen Bosskampf sondergleichen, aus dem die Jünger des Gekreuzigten als religionsgeschichtliche Sieger hervorgingen.

Auch deshalb, weil man etwas perfektionierte, das auch in der Spielewelt gang und gäbe ist: der dreiste Ideen-Raub. Was von Testern der Neuzeit zu Recht kritisiert wird, ist auch ein starkes Wesensmerkmal des Christentums. Egal ob die Zehn Gebote, das Vater unser, das Hand auflegen bei der Taufe, die Engel und Erzengel, der Ausschluss der Frau, die Nächstenliebe – alles frech von den Juden, den Hellenen oder Mysterienkulten von Osiris bis Dionysos geraubt. Hätte es in der Antike ein Urheberrechtsgesetz gegeben, wäre das Christentum wohl nie entstanden.

Aber all das hat scheinbar nicht gereicht. Denn ähnlich wie FIFA nur die Verkaufslisten, aber PES3 die Fußballherzen erobert hat, hat die furchtsame Moralkeule der Kirche zwar politisch gewonnen, aber tief in der Seele des echten Zockers spielt sie keine Rolle. Hier regieren Götter, Kulte und Mythen. In den modernen Wohnzimmertempeln geht es nicht um ein entferntes Paradies, sondern um handfesten Highscore-Ruhm und Clan-Ehre, um Leveljagd und Schatzgewinn.

Kurzum: Die Spielewelt ist ihrem Wesen nach nicht christlich, auch nicht atheistisch, sondern herrlich heidnisch bis zum letzten Pixel.


Jörg Luibl
4P|Textchef