Call of Iran
Ein Kommentar von Jörg Luibl, 14.10.2010

Folter, Giftgas, Vergewaltigung? Womit muss der nächste Shooter werben, damit man die Talibanhysterie um Medal of Honor noch toppen kann? Das ist gar nicht so einfach. Es wäre vielleicht hilfreich für die Marketingstrategie, wenn sich der Konflikt mit dem Iran so weit zuspitzt, dass die ersten Bomben und Programmzeilen gleichzeitig fliegen könnten. Da die Ölreserven weiter schwinden und Ahmadinedschad weiter hetzt, schreibt sich das Drehbuch für ein Call of Iran doch fast von selbst. Ob es schon in Entwicklung ist?

Jedenfalls könnte man im Vorfeld die PR-Trommel mit einem lukrativen Gewinnspiel schlagen. Natürlich müsste die Frage etwas kniffliger sein und in etwa dem Spannungsbedürfnis der Zielgruppe entsprechen - also: Wer gewinnt den Krieg? Selbst wenn die Entwickler nicht ganz so schnell und effizient am Code arbeiten könnten wie die amerikanische Luftwaffe an der iranischen Infrastruktur: Man könnte ja ein Pre-Release-Event im Februar 2012 direkt im befreiten Teheran an einer Großbildleinwand inszenieren.

Da lädt man dann die internationale Spielepresse und aus einem Pool an Vorbestellern alle beteiligten Kriegsparteien ein - auch ein paar eSports-Moslems für die political correctness. Und alle bekommen vor Ort im Blitzlichtgewitter von FOX News, CNN und N24 neben kugelsicheren Westen eine Special Edition vom Lead-Designer, während die Demokratisierung des Iran im Takt der ersten Bombendetonationen erfolgreich voran schreitet. Aber dafür liegt jedem Call of Iran ja exklusives Oropax in Camouflage bei.

Was, ich übertreibe? Das wäre alles nie möglich? Wenn Publisher weiterhin nur auf schnelle Erlöse und tabugeile Zielgruppenbefriedigung schielen, aber das Medium nicht für reifere Entwicklungen öffnen und in kompetente Spiele-Regisseure investieren, ist ein Call of Iran nur eine Frage der Zeit. Denn Medal of Honor symbolisiert im Jahr 2010 nichts anderes als die kulturelle Beschränktheit der Spielewelt.

Es geht mir nicht darum, ob man aktuelle Kriegsschauplätze überhaupt thematisieren darf oder um die Frage, ob es "widerwärtig" ist, wenn man für ein Deathmatch in die Rolle eines Polygons mit Talibantextur schlüpfen darf - diese alberne moralische Aufregung ist nicht das Thema. Jeder Erwachsene kann für sich entscheiden, ob er virtuell ballern will oder nicht. Aber er kann sich nicht wie bei Buch und Film zwischen Qualitäten entscheiden, weil das Angebot einfach erschreckend dürftig ist.

Es geht mir um die kreative Stagnation, die angesichts all der Schlagzeilen im Vorfeld gar nicht diskutiert wird. Momentan lebt der Shooter nur von den Skandalen: Egal ob Flughafengemetzel an Unschuldigen oder Talibanschreck - der Tabubruch scheint das einzige Mittel zu sein, um das inhaltliche Versagen noch einigermaßen reizvoll verkaufen zu können. Ich meine nicht den klassischen Waffenporno vom Duke über Gears of War bis hin zu WET, der ewig leben wird, sondern die virtuelle Action, die bewusst mit der Faszination des authentischen Krieges spielt, die mit "mittendrin" und "hautnah" lockt.

Spätestens die Verkaufszahlen von Call of Duty 4: Modern Warfare haben die enorme Nachfrage in Spielerkreisen bestätigt - es ist logisch, dass man zunächst für sie entwickelt. Aber irgendwie scheint selbst bei Fans des patriotischen Run&Gun-Shooters so langsam die Faszination an bombastischer Inszenierung nachzulassen. Viele sind satt, überreizt oder gelangweilt. Irgendwie rockt es nicht mehr.

Liegt das nur an der fehlenden Qualität der Kampagne von Medal of Honor? Oder symbolisiert dieses Spiel vielleicht schon den Niedergang des Military-Shooters, das Dahinsiechen des klassischen Kriegsspiels? Fühlen sich doch mehr Spieler als erwartet intellektuell und dramaturgisch unterfordert? Das wäre ein Hoffnungsschimmer für anspruchsvolle Actionfans.

Denn das, was in der zweiten Dimension mal mit Rambo (1985) und Rush'n Attack: Green Beret (1986) begann und spätestens mit Medal of Honor (1999) und Call of Duty (2003) erste Höhepunkt erreichte, hat sich bis heute kaum entwickelt. Selbst die grafischen Sprünge, die wenigstens den Fetisch der gleißenden Explosionen und einstürzenden Bunker bedienten, gibt es seit Modern Warfare nicht mehr. Also müssen Skandale her, damit sich das Moorhuhnschießen am Hindukusch verkauft.

Was jedoch fehlt: Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit dem dem Thema Krieg. Eine Dramaturgie, die die Fratze des Krieges zeigt. Ein Drehbuch, das die menschlichen Schicksale und die Grauzonen dieses Konfliktes beleuchtet, in dem es um weit mehr geht als um Amerika gegen Terroristen. Immerhin erkennen einige Entwickler diese Beschränktheit, fordern einen reiferen Umgang mit dem Thema Gewalt: Hideo Kojima hat sein Versprechen vom April zwar noch nicht in Form eines kommenden Projekts eingelöst, aber in Metal Gear Solid 4 erste Ansätze gezeigt, indem er die Kriegsmotive erzählerisch hinterfragte und den Spieler zum Augenzeugen einiger Gräuel machte.

Und Electronic Arts hatte im Vorfeld von Medal of Honor reichlich "Authentizität" versprochen, serviert am Ende aber nicht nur das übliche Geballer zwischen Gut und Böse, sondern patriotische Durchhalteparolen - wie in Rambo wird Amerika glorifiziert. Natürlich ist das legitim. Natürlich kann man damit seinen Spaß haben. Aber ein Spiel für Erwachsene müsste ein Spiegel der Realität in allen Facetten sein.

Was ist mit den physischen und psychischen Folgen des Krieges? Was ist mit Deserteuren auf allen Seiten? Was ist mit den hoch dekorierten Krüppeln? Was ist mit den Bomberpiloten, die mal ein ganzes Dorf einäschern? Was ist mit den Veteranen, die nach dem Krieg ohne Psychopharmaka nicht mehr leben können? Was ist mit dem Bundeswehrsoldaten, der nach seinem ersten Gefecht kotzen muss? Was ist mit dem zwölfjährigen Afghanen, der von den Taliban entführt und an die Front geschickt wird? Was ist überhaupt mit der Frage nach dem Sinn dieses Krieges?

Das kann ein Spiel nicht thematisieren? Oh doch - das kann es und das muss es endlich! Wenn es als Medium ernster genommen werden will, dann muss es auch Reife zeigen. Das verkauft sich nicht? Oh doch - man muss es nur genau so geschickt in die Schlagzeilen bringen wie das x-te idiotische Moorhuhnschießen in Uniform!

Ähnlich wie es eine New-Hollywood-Ära in der Filmgeschichte gab, brauchen wir eine neue Shooter-Ära, wir brauchen einen New Shooter Realism. Das, was Francis Ford Coppola im Film "Apokalypse now" schon 1979 (!) inszenierte, fehlt der Spielewelt: Ich fordere kein pazifistisches Blumenpflücken am Hindukusch, keinen moralischen Zeigefinger, keine patriotische oder religiöse Beweihräucherung, sondern das Abtauchen in die Schrecken des Krieges, damit eine Reflexion und ein Nachdenken erst möglich wird. Und dazu braucht das Spiel in jedem Fall die Inszenierung von Gewalt.

Nochmal zurück zu "Apocalypse now". Dort bringt Colonel Walter E. Kurtz aka Marlon Brando auf den Punkt, warum eine authentische und schonungslose Darstellung wichtig ist:

Und, falls ich getötet werden sollte, (...), möchte ich, dass jemand zu mir nach Hause geht und es meinem Sohn erzählt. Alles. Alles, was ich getan habe, alles was Sie gesehen haben. Denn es gibt nichts, was ich mehr verabscheue als den Gestank von Lügen.

Die Lüge der Glorifizierung wurde oft genug erzählt. Erst wenn man als Held nicht mehr aufsteigt, weil man seinen hundertsten Feind niedergemäht hat, sondern weil man auf der Flucht von der Front allen Fratzen des Krieges begegnet ist, macht das Spiel einen Schritt nach vorne. Erst wenn man im letzten Akt nicht die achtundvierzigste Waffe als Belohnung versteht, sondern die letzte mit einem Hurra wegschmeißt, weil Zuhause der Abspann lockt oder weil man sie im Schlamm der blutigen Realität nicht mehr tragen kann, macht das Spiel einen Schritt nach vorne.

Wir brauchen kein Call of Iran, wir brauchen das erste Anti-Kriegsspiel!


Jörg Luibl
Chefredakteur