Xbox Live, der Wolf & Hobbes
Eine Kolumne von Jörg Luibl, 26.11.2004

"Der Mensch ist dem Mensch ein Wolf", sagte Thomas Hobbes . Er ist hungrig, brutal, gierig, misstrauisch, gewalttätig, böse. Er drängelt an der Kasse, er hupt im Stau und brüllt Schiedsrichter an. Er sperrt Artgenossen in Container und filmt ihr singendes, furzendes oder chirurgisches Elend. Der britische Staatsphilosoph behauptete sogar, dies sei ein Naturgesetz, denn im Urzustand herrsche da draußen der Krieg alle gegen alle.

Wie gut, dass man gar nicht erst raus muss. Und noch besser, dass man die endemolisierte Glotze gar nicht erst einschalten muss - es gibt ja Xbox Live! Man zieht sich bequem auf die warme Couch zurück, vergisst das misanthropische Weltbild des Briten und füttert den Schlitz der schwarzen Kiste mit einer virtuellen Delikatesse. In dieser Saison empfiehlt sich Pro Evolution Soccer 4, denn der Fußballtraum aus Japan ist endlich online und für alle da.

Moment mal - für alle? Aber bekriegen die sich nicht alle? Blöder Philosophen-Quatsch! Will dieser Insel-Hops uns etwa den Spaß verderben? In der vernetzten Welt des Fußballs geht`s um faire Wettkämpfe, um Ballzauber und um Controller-Virtuosen - da zählt nur auf`m Platz! Außerdem trifft man da coole Gamer und verzockte Freaks aus aller Welt, nicht so spuckende Tottis und prollige Bananenwerfer.

Gesagt, getan: Die Xbox schnurrt, das Konami-Logo strahlt und ich verbinde mich mit dem Rest der Fußball begeisterten Spielewelt - herrlich! In null Komma nichts ist ein Match aufgesetzt und ich warte gespannt auf einen Herausforderer. Und ich warte. Und warte. Dann, endlich, will "Boom69nl" gegen mich antreten! Schnell die Mannschaft aufgestellt und schon ertönt der Anpfiff: er Barca, ich Borussia.

Ach, so ein Fußballspiel tut der angespannten Seele richtig gut: Die Sonne scheint, der Ball läuft und mein Gegner sitzt irgendwo in Amsterdam. Er nimmt keinen Platz auf der Couch weg, will keine Chips, kein Bier und glänzt mit servicefreundlicher Abwesenheit. Xbox Live verbindet eben auf angenehm platonischer Ebene. Und Hobbes´ Wölfe sind plötzlich ganz weit weg.

Auf dem Rasen geht`s zur Sache, denn Boom69nl ist richtig gut: Deco dribbelt sich an der Außenlinie frei, flankt scharf auf den kurzen Pfosten und Larsson nickt mit einem wuchtigen Kopfball ein - Traumtor! Ein kerniges "YESSSSS" zischt in meine Kopfhörer, ich zolle dem Gegner mit einem kleinlauten "Nice goal" Respekt. Der Mann hat`s drauf, während meine Jungs nicht ins Spiel finden.

Und er wirbelt weiter: Kurz vor Ende der ersten Halbzeit legen Ronaldinho und Deco einen Doppelpass aufs Parkett und der wieselflinke Brasilianer versetzt zuerst Madouni, dann Weidenfeller - der Ball zappelt im Netz. 2:0 für Boom69nl, der sich jetzt zum noch kernigeren "OH YESSSSSS" steigert, während ich nur noch ein mickriges "Oh no" ins Mikro hauche. Und irgendwie schleicht sich das Gefühl ein, dass Hobbes doch Recht hat - jedenfalls mit dem Krieg.

Die zweite Halbzeit läuft besser: Ich stelle auf das offensive 4-3-3 um, reiße mich zusammen und rede mir ein, dass Holländer zwar immer schönen, aber dafür wenig effektiven Fußball spielen. Das behalte ich natürlich für mich und lasse Rosicky, Koller & Co kombinieren. Noch hält seine Verteidigung stand, aber dann unterläuft Boom69nl ein schwerer Abwehrfehler, Ricken schnappt sich den Ball und donnert ihn aus zwölf Metern ins Netz - hurra, es steht nur noch 1:2! Ich rieche meine Chance: Rosicky schlägt die Ecke auf den langen Pfosten, Koller schraubt sich hoch und nickt den Ball unter die Latte - Tor! Jetzt steht`s 2:2 und mein "YESSSS" zischt durch die Leitung, während ein wölfisches Grinsen mein Gesicht erobert.

Boom69nl presst ein gequältes "Can´t be…" heraus. Okay, das Ergebnis ist zwar schmeichelhaft, aber das Leder ist drin. Und wer gewinnt, hat Recht! Die letzten Minuten laufen, nur ab und zu hört man ein Schnaufen und Ächzen am anderen Ende der Leitung - beide wissen, dass das Spiel auf Messers Schneide steht.

Dann die 86. Minute: Ronaldinho kommt gefährlich nah an den 16er, zieht ab und trifft die Latte! Boom69nl flucht, der Ball landet bei Metzelder, der schlägt ihn weit auf Ewerthon, der wiederum Puyol alt aussehen lässt und zielstrebig in Barcelonas Hälfte spurtet…er stoppt kurz, schaut, sieht Koller, passt halbhoch in den Strafraum und der Tscheche lässt es per Dropkick rechts oben krachen - 3:2 für Dortmund! Jetzt donnert mein westfälisches "JAWOLLLL" ins Mikro; meine Betriebstemperatur erreicht Stadion-Niveau.

Aber vielleicht war ich etwas zu laut? Denn am anderen Ende herrscht plötzlich Totenstille. Hab ich Boom69nl etwa totgebrüllt? Ich frage schüchtern "Hey, are you still there?", aber es kommt nichts. Okay, dann eben nicht. Aber was ist das? Ronaldinho steht beim Anstoß, aber rührt sich nicht. Auch bei mir funktioniert plötzlich nichts mehr - das Bild friert ein und dann kommt die Meldung, dass die Verbindung unterbrochen wurde…

Scheiße, verdammte! Das gibt`s doch nicht! So ein elender Quitter! Da verschmelze ich für ein paar Minuten mit dem virtuellen Rasen, fiebere mit und gebe alles - und dann bricht er einfach das Spiel ab. Hey, ich hab ein verdammtes 2:0 mit dem krisengeschüttelten BVB gegen Barcelona aufgeholt und noch gewonnen! Und dann sitze ich da wie ein hilfloses Häufchen Empörung auf der Couch und die Wut kocht. Am liebsten würde man durch die Leitung kriechen und dem Kerl…

…ein Wolf sein? Hobbes hatte Recht. Und der scheinbar überwundene Naturzustand ist immer noch allgegenwärtig. Manchmal ist man von seiner Spezies jedenfalls nicht nur vor der Glotze angewidert, sondern auch vor der Konsole. Und manchmal ist es komfortabler, gemütlicher und entspannender, wenn der Artgenosse auf der gleichen Couch sitzt. Denn Türen kann man wenigstens vor dem Anpfiff abschließen.


Jörg Luibl
4P|Textchef