Buchtipp für Spieler: Buchtipp & Rezension: Extraleben

Buchtipp für Spieler
21.04.2008 13:15, Jörg Luibl

Buchtipp & Rezension: Extraleben

Constantin Gillies Taschenbuch "Extraleben " ist gerade beim CSW-Verlag erschienen und bietet euch 37 Level plus freilesbares Bonuslevel verteilt auf 347 Seiten. Der Preis: 16,95 Euro. Die Leistung: Eine mysteriöse Zeitreise in die Videospielgeschichte.

Lohnt sich der literarische Trip?

Ich bin 1973 geboren. Ich bin mit dem C-64 aufgewachsen. Aber das öde Cover schreckt mich zunächst ab. Selbst wenn ich mich heute noch als Fan des heiligen Competition Pro bezeichnen würde, wirkt er auf krankenhausweißem Hintergrund steril und lieblos - dahinter könnte auch ein Retrokatalog warten. Außerdem passt der puristische Joystick nicht zu den üppig recherchierten Szenen, die der Autor aufbaut.

Wäre das Buch ein Spiel, würde ich von einem faden Intro sprechen. Aber das interessiert spätestens dann nicht mehr, wenn die Geschichte nach 30 Seiten einen spannenden Köder auslegt. Die beiden Protagonisten Nick und Kee, die sich irgendwo im Rheinland zu einem Zockerabend alter Schule treffen, stehen plötzlich vor dem größten Abenteuer ihres Lebens. Als sie eine geheime Botschaft im C-64-Klassiker Raid over Moscow entdecken, lässt sie ihre scheinbar abstruse Verschwörungstheorie nicht mehr los: Könnte ein Konzern tatsächlich über einen Code in einem Videospiel Hacker-Nachwuchs anheuern oder Botschaften vermitteln wollen? Nerdquatsch oder doch Realität?

Die Neugier treibt sie mit viel Elan, Bier und Burgern bis in die motelreiche Mitte der USA, dann ins dekadente Los Angeles und schließlich ins eisige Grönland. Ich begleite sie Seite um Seite, irgendwann komme ich in diesen Lesefluss, der das Buch an die Hand schweißt. Ich habe allerdings etwas gebraucht, um mit den Charakteren und der Story warm zu werden. Zu Beginn liest sich die Geschichte noch wie all zu nostalgisches Retro-Gejammer der Marke Damals-war-alles-besser. Den einen hat gerade die Freundin verlassen, der andere lässt sich gehen, beruflich ist man unterfordert, keiner wird mehr so richtig gebraucht...

Aber der leicht depressive Ersteindruck täuscht. Zwar geht es auch um die Midlife-Crisis, aber in diesem Buch steckt weit mehr als die soziale Ernüchterung des deutschen Alltags oder nerdige Brotkistenschwärmerei - es ist ein kriminalistisches Abenteuer, das nicht nur den Zeitgeist der 80er und 90er beschwört, sondern auch angenehm kritische und bissige Seitenhiebe auf aktuelle Verhältnisse wie z.B. die Arbeitsplatzsituation oder die grenzdebile Killerspieldebatte austeilt.

Die beiden Retromanen sind in der Blütezeit ihrer Zockerjugend stecken geblieben, die mit dem Erscheinen von Tetris endete, und verweigern sich mit Stolz und Spott dem aktuellen Zeitgeist - egal ob Mode, Ernährung oder Spielkultur. Sie geben sich lieber das alte Wolfenstein als Gears of War, quatschen lieber über Emulatoren als High Definition. Schön ist, dass diese Leidenschaft nicht unnötig romantisiert wird: Die beiden wissen nicht nur, dass die alten Games nicht unbedingt besser waren, sie müssen sich auch eingestehen, wie schlecht sie heute als Zocker geworden sind - mit Ende 30 ist man zu alt für glorreiche Highscores, kommt viel seltener in den magischen Flow, wo einen Hand und Auge ohne nachzudenken ins Finale zaubern.

Immer wieder wird auf der Spurensuche an Automaten in Motels oder Bars gezockt und ein Stück Videospielgeschickte eingeflochten: Namen wie Centipede, Pac-Man, Defender, Asteroids, Missile Command, R-Type oder Doom dürfen natürlich nicht fehlen. Außerdem wird die Mentalität der damaligen Zockernaturen wunderbar eingefangen - es ging vor allem in den Spielhallen um den Kampf gegen die Maschine. Und es ist auch immer wieder ein kleines Stück deutsche Vergangenheitsbewältigung, wenn vom Schulalltag und reichen Scheidungskindern oder von Poppern und Asis die Rede ist. Wer kennt im SMS-Zeitalter noch "Popper"? Besonders gelungen ist die Beschreibung der getrennten Welten in den Spielhallen von anno 1988: Echte Videospieler hier, Münzautomatenzombies mit Schnäuzer da. Genau so war's damals. Schön auch, wie gnadenlos der Autor mit Vorurteilen aufräumen will:

"Ich kann das Gefasel der Gutmenschen schon hören: Damals spielte man noch zusammen, da hockte noch nicht jeder isoliert vor dem Rechner. Aber das ist nichts als Pfadfindergewäsch. Die Spielkiste war kein sozialer Schmelztiegel."

Ich würde zwar widersprechen, weil wir gerade in der glorreichen C-64- & Amiga-Zeit viel zusammen mit Kumpels gezockt haben, aber das ist vielleicht nur meine Erfahrung. Hier und da wirken Nick und Kee fast wie Mulder und Scully. Die großen Spannungsmomente halten sich zwar in Grenzen und die gefährlichen Situationen werden nicht immer dramatisch genug ausgearbeitet, aber das Rätsel um die versteckten Codes ist ein geschickt inszeniertes, dem man sich nur schwer entziehen kann. Constantin Gillies gelingt es, mich trotz meiner anfänglichen Skepsis und etwas bemüht wirkender Konstruktionen in die Geschichte zu ziehen. Das liegt auch daran, dass es zwischen den Protagonisten lebendig und emotional zur Sache geht - auch die besten Kumpel haben ihre Probleme.

Meist sind die Formulierungen treffend, meist sitzen die Metaphern, nur ab und zu wirkt die Sprache etwas ruppig. Dafür gibt es herrliche Sätze wie diesen:

"Bis in die Oberstufe hinein trug Nick türkisfarbene Pullis mit Polohemden drunter, hellgraue Socken und ausgelatschte weiße Lederslipper, Typ Schnellfickerschuhe zum raschen Abstreifen."

Das Gefühl, ohne rosa Brille in die "gute alte Zeit" abzutauchen, hat mir beim Lesen am meisten Spaß gemacht. Außerdem freut man sich über die penible Recherche, die sich nicht nur auf Spiele-Anekdoten bezieht, sondern auch auf die Architektur, die Musik, die Sitten und Gebräuche in Motels oder auf Flughäfen. Wer schon mal am Santa Monica Pier in der Spielhalle war, wird sie in den anschaulichen Beschreibungen sofort wieder erkennen.

Constantin Gillies nimmt euch mit auf einen Trip in die Spielervergangenheit, zurück zu den Wurzeln der Faszination. Und manchmal baut der Autor mit wenigen Hinweisen auf Musik und Stimmungen kleine literarische Teleporter, die mich in null Komma nichts in die 90er beamen, als wir mit Ice Cubes "It was a good day" im Ohr zum nächsten Basketballplatz fuhren. Das sind schöne Lesemomente.

Aber Vorsicht: Dieses Buch ist für die Generation geschrieben worden, die mit River Raid, Text-Adventures und Disketten aufgewachsen ist, die mit Pommes und Bier an Automaten rockte und Hackerintros manchmal geiler fand als das danach folgende Spiel. Ihr seid Mitte oder Ende 30? Dann wird diese abenteuerliche Reise euren Nerv treffen. Unterm Strich eine gelungene Hommage an die alte Videospielzeit und eine richtig gute Kumpelgeschichte mit einem leichten Hauch von Hacker-Mystery.